Wenn die Psyche schreit
Kritische oder gar lebensbedrohliche Situationen können auch bei psychiatrischen Erkrankungen entstehen. Wie man diese erkennt und wie man richtig handelt, erklärt Paula Kunze, leitende Psychologin der Psychiatrischen Dienste Langenthal.
Ein Tief hat wohl jeder mal in seinem Leben. Meist geht dieses auch wieder vorbei – manchmal aber eben nicht. Die statistische Wahrscheinlichkeit, jemals in seinem Leben eine psychische Erkrankung zu erleiden, liegt bei etwa 30 Prozent. Die häufigsten Erkrankungen sind Depressionen sowie Angststörungen. Ganz besonders betroffen von psychischen Belastungen sind gemäss einer Selbsteinschätzung junge Erwachsene im Alter von 15 bis 25 Jahren*, wie Paula Kunze weiss: «16 Prozent der jungen Männer schätzen ihre psychische Belastung als mittel oder hoch ein, bei den jungen Frauen sind es sogar 30 Prozent.»
Doch nicht jede Depression und nicht jede Angststörung muss sofort behandelt werden. Paula Kunze erklärt: «Eine psychische Erkrankung liegt dann vor, wenn jemand in seinem Alltag beeinträchtigt ist und leidet. Jemand mit einer Spinnenphobie, was auch eine Angststörung ist, kann damit problemlos leben. Wenn sich aber jemand permanent ängstigt, weil er sich verfolgt fühlt, funktioniert der Alltag irgendwann nicht mehr, und ohne professionelle Unterstützung wird es wahrscheinlich nicht dauerhaft besser.» Auch leichte depressive Phasen durchleben die meisten von uns mal, und meist weiss man, wie man auch ohne professionelle Hilfe aus diesem Tief wieder herauskommt: Der eine macht vermehrt Sport, einem anderen hilft mentales Training oder einfach genügend Schlaf oder eine Auszeit.
Entstehung und Symptome einer psychischen Störung
Die Auslöser für psychische Störungen sind vielfältig. Stress spielt dabei jedoch fast immer eine Rolle, wie Paula Kunze weiss: «Überforderung am Arbeitsplatz kann genauso Stress auslösen wie der Verlust eines geliebten Menschen. Was genau jemanden belastet, ob überhaupt und wenn ja, wie stark, ist individuell sehr verschieden. Auch körperliche Erkrankungen können psychiatrische Symptome verursachen, beispielsweise Kopfverletzungen, Infektionen oder Vergiftungen. Die allermeisten psychischen Störungen entwickeln sich schleichend. Es kann aber auch vorkommen, dass sich eine Störung in kurzer Zeit deutlich verschlimmert. Generell kann man jedoch sagen, dass sich durch eine akute psychische Störung oftmals Gewohnheiten plötzlich verändern: Der Tag-Nacht-Rhythmus kommt durcheinander, der Appetit verändert sich, man schläft nicht mehr richtig, zieht sich aus dem sozialen Umfeld zurück. Manchmal sind auch Wesensveränderungen sicht- und spürbar oder man verliert einfach die Freude. Einfach gesagt: Betroffene sind ganz anders als sonst.»
Wann braucht es professionelle Behandlung?
Professionelle Behandlung ist dann notwendig, wenn der Betroffene selbst merkt, dass er aus seinem leidvollen Zustand nicht mehr herauskommt. Da dies jedoch meist ein schleichender Prozess ist, kann es sein, dass man die eigene Situation nicht korrekt erkennt. Mögliche Anzeichen dafür, dass die eigene Psyche nicht mehr im Gleichgewicht ist, können sein, dass man sich schon über Kleinigkeiten masslos aufregt oder beim kleinsten Missgeschick die Fassung verliert. Oder man zieht sich bewusst aus der Gesellschaft zurück, da einem alles zu viel ist, und im Alltag überfordern einen schon einfache Situationen oder Aufgaben.
Einen psychiatrischen Notfall erkennen und richtig handeln
Ist es Betroffenen selbst nicht möglich, ihre eigene Situation richtig einzuschätzen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, sollte das Umfeld reagieren. «Es ist schwierig, einen psychiatrischen Notfall in ‹normale oder alltagsübliche› Worte zu fassen», sagt Paula Kunze. «Wir haben ein ganzes Buch mit eigenen Fachbegriffen, um solche Zustände zu beschreiben. Aber ich kann versichern, dass man einen psychiatrischen Notfall erkennt, wenn er da ist. Meist umschreiben Angehörige die betroffene Person als ‹komisch› oder ‹seltsam verändert› – und genau das ist meist auch der Fall. Man kann es kaum in Worte fassen und fühlt sich hilflos.»
Wichtig ist, in einer solchen Situation besonnen zu handeln. Paula Kunze betont: «Ob als Angehöriger oder als Passant gilt es, Ruhe zu bewahren, die Person ruhig anzusprechen und sie erzählen zu lassen, wie es ihr geht. Manchmal reagieren Betroffene nicht oder kaum oder sprechen zusammenhanglos, sodass man ihnen inhaltlich nicht folgen kann. Auch dann gilt es, bei ihnen zu bleiben, bis professionelle Hilfe da ist. Man sollte die Person auf jeden Fall ernst nehmen und nach Möglichkeit versuchen, sie zu beruhigen und ihr Hoffnung zu vermitteln, dass Hilfe unterwegs ist. Reagiert eine Person aggressiv, muss man unbedingt auch auf die eigene Sicherheit achten, da sich diese Person in einem absoluten Ausnahmezustand befindet. In einem solchen Fall gilt es, Abstand zu halten und die Person zu beobachten, bis Hilfe eintrifft.»
Text: Nathalie Beck, beckwerk.ch
Fotos: Manuel Stettler, stettlerphotography.ch
Psychiatrischer Notfall: erkennen und richtig handeln
• Psychische Störung tritt akut auf oder verschlimmert sich drastisch
• Es besteht eine unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben des Betroffenen oder des Umfeldes, z. B. durch
– konkrete Suizidpläne /Suizidversuch
– extreme Erregungszustände
– Aggressivität oder Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit einer psychischen Störung
– Angst/Panik
– paranoide Gedanken, Halluzinationen
– Delir (Verwirrtheitszustand)
In einem solchen Fall immer den Notruf 144 wählen
• Notfall beschreiben
• Betroffene beruhigen und Hoffnung vermitteln
• Zuhören und ernst nehmen
• Auf die eigene Sicherheit achten
• Person nicht allein lassen, bis Hilfe da ist