Spitzensport trotz Einschränkung

Nicole Häusler ist eine international erfolgreiche Athletin im Sportschiessen und visiert ihr grosses Ziel an: die Paralympics 2021 in Tokio. 

«Der Sport gibt mir Selbstvertrauen und verschafft mir Wertschätzung. Ich sehe, was möglich ist, und tanke Kraft, dafür zu kämpfen, mich durch die Multiple Sklerose nicht einschränken zu lassen», sagt die 40-jährige Nicole Häusler. Sie ist mehrfache Schweizer Meisterin im Sportschiessen, EM-, WM- und Teilnehmerin an den Paralympics in Rio. Die diplomierte Radiologiefachfrau HF arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum im Spital Langenthal.

Nicole Häusler, Sie reüssierten schon bei Ihrem ersten Wettkampf 2014: In Bern holten Sie sich mit dem Luftgewehr nicht nur den nationalen Titel, sondern erzielten gleich einen Schweizer Rekord und lancierten Ihre Karriere als Schützin. 
Vieles geschah schnell, fast zu schnell. Bereits im selben Jahr trat ich an internationalen Wettkämpfen an. Manchmal konnte ich den Ereignissen mit dem Kopf kaum folgen.

2006 erhielten Sie die Diagnose Multiple Sklerose. Wie sind Sie  mit diesem Schock umgegangen?
Es flossen viele Tränen. Ich sagte zu mir, du hast zwei Möglichkeiten: aufgeben oder kämpfen. Es gelingt mir nicht jeden Tag, aber das geht auch gesunden Menschen so. Oft habe ich das Gefühl, das Umfeld leide mehr als ich selber. Ohne die grosse Unterstützung im Alltag durch meine Familie und Freunde wäre vieles gar nicht möglich.

Sie lassen sich durch die Krankheit nicht behindern, aktiv zu sein, und betreiben Leistungssport auf höchstem Niveau. Schon als Jugendliche fuhren Sie Radrennen. Später sattelten Sie um auf eine 750er-Maschine.
Oh ja, Motorradfahren vermisse ich am meisten; dieses Feeling ist mit nichts anderem vergleichbar. Da ich zwei Jahre nach der Diagnose vermehrt auf den Rollstuhl angewiesen war, spielte ich zunächst Rollstuhlcurling, bis 2012 ein erneuter MS-Schub zu einer Dysfunktion des rechten Armes führte. Gemeinsam mit der Sportberatung der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung fanden wir im Sportschiessen eine neue Herausforderung.

Wie muss man sich das Sportschiessen im Rollstuhl sitzend vorstellen? 
In meiner Kategorie ist das Gewehr auf einer Feder aufgestützt, da ich es mit dem rechten Arm nicht selbstständig halten kann. Also muss ich als Rechtshänderin mit der linken Hand schiessen und den Abzug mit dem Zeigefinger betätigen, an dem ich oberflächlich nichts mehr spüre. Der Impuls, wann ich abziehe, ist bei mir ein intuitiver, antrainierter Vorgang. 

Für das Laden und Ausrichten des Gewehrs und das Einstellen des Diopters bin ich auf die Hilfe meines Betreuers, meistens Nationaltrainer Walter Berger, angewiesen. Bei den stehend und liegend Anschlägen unterscheidet sich jeweils die Haltung der Arme respektive die Ellbogenposition.

Wie erklären Sie sich Ihren raschen Erfolg in dieser Sportart, die viel Präzision und Ruhe erfordert?
Tagtäglich stehe ich vor Herausforderungen, sei's privat oder im Beruf. Perfektionismus und ein starker Wille waren schon immer Eigenschaften von mir, wenn sich diese auch nicht nur immer positiv auswirken. Durch die Krankheit habe ich gelernt, mich schnell auf neue Situationen einzustellen. Zudem bin ich ein Wettkampftyp, der sich voll auf einen Anlass konzentrieren kann.

Wie trainieren Sie, um an der Weltspitze mithalten zu können?
Mit Physiotherapie und Hippotherapie halte ich mich fit und versuche, dem MS-bedingten Kraftabbau und der Unbeweglichkeit entgegenzuwirken. Für das Mentaltraining werde ich von einer Sportpsychologin beraten. Um die Abläufe noch besser automatisieren zu können, steht seit Kurzem eine eigene Schiessanlage für das Luftgewehr in meinem Wohnzimmer. Die Scheibe steht hinter dem Sofa, sprich, ich schiesse diagonal von der Haustüre aus (lächelt verschmitzt).

Einmal im Monat treffen wir uns vom Rollstuhlsport Schweiz zum gemeinsamen Training. Sonst bin ich meistens allein unterwegs, das heisst mit meinem Betreuer Walter Berger. Ich trainiere abwechslungsweise in Lotzwil, in Kölliken, im Schiesssportzentrum Luzern oder im Brünig Indoor. Die unterirdische Schiessanlage in Lungern unterstützt mich als Sporthilfe-Pate. 

Sie sind eine Frohnatur und strahlen Lebensfreude aus. Gibt es auch Zeiten, die Sie zweifeln lassen?
Trotz meiner positiven Einstellung gibt es auch dunkle Momente, die Ungewissheit, wie sich die Krankheit weiterentwickelt, die nächtlichen Schmerzen oder die Hilflosigkeit, wie ich ein auf den Boden gefallenes, zerbrochenes Glas aufwischen soll. Wenn es einem schlechter geht, ist dies von aussen oft nicht ersichtlich. Umso wichtiger sind regelmässige Strukturen wie die Tätigkeit im Spital Langenthal. 

Ihre Paradedisziplin ist das Luftgewehr. 
Im Hinblick auf die Paralympics haben wir entschieden, dass es sinnvoll ist, mich auf eine Disziplin mit dem Luftgewehr zu spezialisieren. Dies obschon mir das Kleinkaliberschiessen sehr gefällt und ich stetig Fortschritte mache. Die MS zwingt mich, gut auf den Körper zu hören und haushälterisch mit meiner Energie und meinen Kräften umzugehen. Wiederholt wurde meine Sehstärke durch heftige MS-Schübe massiv beeinträchtigt. Zurzeit sehe ich wieder auf beiden Augen 100 Prozent. Zum Schiessen reicht das rechte Auge jedoch nicht mehr aus. Aufgrund mehrerer Sehnervenentzündungen war ich gezwungen, die Ziele fortan mit dem linken Auge ins Visier zu nehmen. Die Umstellung gelang schnell. Mit dem Luftgewehr im stehenden Anschlag wurde ich an der WM in Südkorea Neunte. In meiner Sportklasse SH2 bin ich die einzige Frau in der Schweiz, die auf diesem Niveau schiesst, und sicherte der Schweiz einen Quotenplatz für die Paralympics 2021. Ich habe Tokio im Visier! 

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