Neues Zentrum für Essstörungen und Adipositas

In enger Zusammenarbeit mit den Dienstleistungen des Adipositaszentrums werden Personen mit allen Formen von Essstörungen, wie zum Beispiel Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder Binge-Eating Disorder (Esssucht), im Zentrum für Essstörungen und Adipositas (ZESA) im Spital Langenthal ambulant behandelt. Im Rahmen eines ganzheitlichen Therapiekonzepts sind Fach- leute aus Medizin, Psychosomatik, Psychotherapie, Ernährungsberatung und Physiotherapie nach Bedarf involviert.

Mit ihrer Idee, in Langenthal ein neues Zentrum für Essstörungen und Adipositas aufzubauen, stiess Dr. med. Bettina Isenschmid auf offene Türen beim SRO. Im Oktober 2022 konnte die Ernährungsmedizinerin die neue Abteilung im Bettenhochhaus eröffnen. Begleitet von ihrem eingespielten Team aus dem Spital Zofingen, wo sie mehr als zehn Jahre das Kompetenzzentrum für Essverhalten, Adipositas und Psyche leitete. Die Tatsache, dass es in der Region nicht ausreichend ambulante therapeutische Angebote für Essstörungen gab, war einer der Hauptgründe, dass sie die Funktion als Chefärztin am ZESA übernommen hat. Zudem wird ihre eigene Praxis in Aarwangen geradezu von Anfragen überflutet. Als persönlichen Grund, nochmals ein neues Projekt anzupacken, nennt sie ihren 60. Geburtstag. Bettina Isenschmid gilt als Pionierin zum Thema Essstörungen und wird als Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik oft als Expertin rund um das Thema Ernährungsmedizin zitiert. 

Kurz vor unserem Gespräch verabschiedet Chefärztin Bettina Isenschmid eine Patientin, die aus Zürich angereist ist. «Die Patienten schätzen ein Kompetenzzentrum, das sich um alles kümmert, und fühlen sich in einem kleineren Spital gut und ganzheitlich aufgehoben», erklärt die Psychosomatikerin. Ziel der Klinik- entwicklung ist ein langsames Zusammenwachsen mit dem Adipositaszentrum. «Früher wurden die klassischen Essstörungen Anorexie und Bulimie ausschliesslich psychiatrisch behandelt, ohne Beachtung der körperlichen Aspekte. Im Gegenzug wurden adipöse Patienten durchwegs medizinisch betreut, ohne zu berücksichtigen, dass diese Patienten auch Essstörungen haben», weiss Bettina Isenschmid aus langjähriger Erfahrung. Nach ihrem Medizinstudium hat sie als junge Mutter in einem Forschungsprojekt zu Suchtursachen bei Frauen mitgearbeitet, dort wurden Magersucht und Esssucht dann wichtige Themen. Als Oberärztin initiierte sie an der Psychiatrischen Universitätspoliklinik im Berner Inselspital eine Sprechstunde für Essstörungen. Zugleich haben sie jedoch auch körperliche Aspekte der Ernährung interessiert und daher ist sie der psychosomatischen Richtung treu geblieben.

«Die Behandlung meiner Essstörung hat mir aufgezeigt, dass ich auch nach Jahren noch aussteigen kann, auch wenn sonst niemand mehr an mich geglaubt hat.» (Kevin S., Patient ZESA)

 

Integratives Therapiekonzept

Willkommen im ZESA sind alle Menschen, die Probleme haben mit ihrem Gewicht oder mit ihrem Essverhalten, egal in welche Richtung es geht. Entscheidend ist das niederschwellige Angebot, bei dem sich Betroffene auch direkt für eine erste Unterstützung melden können. In der Regel werden die Patienten (ab zehn Jahren) von Haus- oder Spezialärzten überwiesen. «Zu Beginn der Behandlung erfolgen ein psychologisches Indikationsgespräch, eine Einschätzung des Ernährungszustandes und eine körperliche Untersuchung. Darauf aufgebaut wird die integrative Therapie, bestehend aus Psychotherapie, medizinischer Abklärung und Behandlung und wo nötig auch medikamentöser Unterstützung», erklärt Bettina Isenschmid. In der Ernährungsberatung wird daran gearbeitet, schrittweise eine bedarfsdeckende Kost zusammenzustellen. Liegt eine Magersucht vor, muss ein Kost und Gewichtsaufbau realisiert werden, welcher die Ängste der Patienten vor dem Essen jedoch respektiert. Bei übergewichtigen Menschen geht es eher um eine Reduktionskost. Je nach Grundstörung wird auch die Bewegungsaktivität besprochen und festgelegt.

Zu wenig essen oder auch zu viel essen ist ein selbstverletzendes Verhalten, das Körper und Seele schadet

Besteht eine ausgeprägte Essstörung oder hat sich eine Adipositas etabliert, oft kombiniert mit anderen psychiatrischen Leiden, ist eine spezialisierte Behandlung angezeigt. Diese dauert in der Regel mindestens zwei Jahre, da nachhaltige Verhaltensänderungen Zeit brauchen. Das ist nicht anders wie sonst in der Suchtmedizin. «Die Prognosen bei den klassischen Essstörungen wie Anorexie sind leider nach wie vor nicht allzu gut und es geht darum, Folge- und Spätschädigungen möglichst zu vermeiden. Bei Langzeiterkrankten können neben körperlichen Schädigungen wie z. B. Unfruchtbarkeit, Osteoporose oder Zahnschädigungen auch solche psychosozialer Natur auftreten, indem jemand die Ausbildungsoder Arbeitsstelle verliert oder eine Partnerschaft zerbricht», erläutert die Ernährungsmedizinerin. Es ist nie zu spät, eine Therapie zu beginnen. Je früher eine Intervention erfolgt, desto intakter sind die Heilungschancen. Ein wichtiges Anliegen ist die Beratung von Angehörigen und anderen Bezugspersonen wie Arbeitgebenden oder Lehrpersonen. «Nicht nur abwarten, wenn man etwas beobachtet, sondern die Betroffenen klar und respektvoll darauf ansprechen oder sich bei Unsicherheiten am ZESA beraten lassen, wie man vorgehen soll», betont die Psychosomatikerin. Auch Gesundheitsfachleute können unterstützende Beratung anfordern. Regelmässig kommen Anfragen von Fachpersonen und Beratungsstellen, wie z. B. der Berner Gesundheit, dort und anderswo engagiert sich Bettina Isenschmid als Supervisorin.

«Unsere Sorgen und Ängste als Eltern konnten wir dem Behandlungsteam anvertrauen, das hat uns wieder Kraft und den Glauben an die Genesung unserer Tochter gegeben.» (Regula und Stefan F. konsultierten das ZESA 2022)

Grundsätzlich entwickeln Frauen mehr Essstörungen. Zunehmend sind auch mehr Buben und junge Männer betroffen. Während die Frauen versuchen, möglichst an Gewicht zu verlieren, wünschen sich die jungen Männer meist einen idealen, muskulösen Körper, dem sie alles unterordnen. Das kann zu Missbrauch von anabolen Steroiden, Proteinkonzentraten und Fitnesssucht führen, während Frauen häufiger Präparate zur Gewichtsreduzierung einnehmen, etwa Abführmittel oder entwässernde Medikamente. Im Lauf des Lebens gibt es bei allen Menschen wiederholt Momente, die belasten oder verunsichern. Befindet man sich in einem guten Umfeld, meistert man auch Situationen wie beispielsweise die radikalen Veränderungen des Körpers in der Pubertät. Fehlen jedoch tragende Beziehungen oder erlebt man viele Schicksalsschläge, kann sich die Ohnmacht ausbreiten und daraus der Drang entstehen, wenigstens den Körper zu kontrollieren. Dies in der Annahme, auch das Leben wieder in den Griff zu bekommen. So entstehen Essstörungen, die mit Fasten, Erbrechen oder Sportsucht beginnen. Andere verunsichernde Lebensphasen können Schwangerschaften, die Wechseljahre oder bei beiden Geschlechtern auch die Midlife-Crisis sein. Essen ist ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis. Psychosomatische Beschwerden wie Depressionen, Ängste und chronischer Stress können zu Gewichtsund Ernährungsproblemen führen. Viele körperliche Erkrankungen wie z. B. Diabetes oder Nahrungsmittelallergien zeigen oft sekundäre Essprobleme. Auch hier kann das ZESA weiterhelfen.

Schönheits- und Schlankheitsideale beeinflussen vermehrt auch ältere Frauen

Nicht nur Teenager, tendenziell auch Frauen mittleren Alters erkranken beispielsweise an Bulimie. Direkt oder indirekt werden Frauen aufgefordert, attraktiv zu bleiben, unbesehen davon, ob sie Kinder haben oder älter werden. Der weibliche Körper sollte immer straff und jugendlich bleiben. In der heutigen Gesellschaft fallen die mageren, durchtrainierten Frauen im sozialen Mainstream kaum mehr auf. «Superschlanke Promis, die so glücklich nd gesund wirken, bilden Ideale für viele Frauen, obschon sie ihre Vor ildsfunktion nicht wahrnehmen. Etwa wenn sie suggerieren, man sehe nach einer Schwangerschaft körperlich nichts; dies nur, weil alle Zeichen mit operativen Eingriffen getilgt werden. Da kann eine Frau schon auf die Idee kommen, sie sei unglücklich mit ihrem Körper», argumentiert die Chefärztin. Für Menschen, die sicher im Leben stehen und den natürlichen Alterungsprozess integriert haben, ist dies weit weniger problematisch. Auf verunsicherte Menschen hingegen wirken solche Bilder belastend. «Inzwischen haben sich auch die Anforderungen an den männlichen Körper gegenüber früheren Massstäben deutlich verändert. Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass auch viele junge Männer einen Körper anstreben, der in der Realität nicht erreicht werden kann», erklärt Bettina Isenschmid. «In unserer Gesellschaft sollte man sich grundsätzlich hinterfragen, welchen Stellenwert wir dem Aussehen, der Figur und der Leistung geben und wie gut wir Individualität, Unvollkommenheit und Leiden respektieren können», gibt die Ernährungsmedizinerin zu bedenken.

«In der Therapie habe ich gelernt, dass meine Figur und meine Kleidergrösse nicht das Wichtigste an mir sind.» (Lisa B., Patientin ZESA)

Abklärung und Diagnostik im Adipositaszentrum der SRO AG

«Eine Adipositasbehandlung hat immer zwei Phasen, jene der aktiven Gewichtsreduktion und jene der Gewichtserhaltung», erklärt Isabel Hofer, Oberärztin im Adipositaszentrum. Im Ärztehaus 2 werden übergewichtige Patienten mit einem Body-Mass-Index von 30 kg/m2 und mehr behandelt.

Als häufigste chronische Krankheit des 21. Jahrhunderts ist Adipositas von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als solche anerkannt. Sie bildet einen wesentlichen Risikofaktor für die Entwicklung relevanter Folgeerkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck und koronarer Herzerkrankungen. «Adipositasmedizin ist ein spannendes Fachgebiet und affin mit der Hausarztmedizin, weil wir die Patienten über lange Zeit begleiten und daraus ein Vertrauensverhältnis entsteht. Deshalb ist es wichtig, dass die Kontinuität gewährt ist, das Team überschaubar, die Wege kurz und die Übergabe sehr gut», erklärt Isabel Hofer. Viele der übergewichtigen Patienten, welche medizinische Hilfe zur Gewichtsreduktion beanspruchen, haben einen Leidensweg hinter sich. Erschwerend kommt hinzu, dass Adipositaseine stigmatisierte Krankheit ist und es grosse Überwindung braucht, den Schritt ins Adipositaszentrum zu wagen. Sobald sie erfahren, dass sie krank sind, fühlen sie sich wie erlöst und erstmals ernst genommen.Möglich ist eine Selbstzuweisung oder die Anmeldung durch den Hausarzt. Während der Erstkonsultation erfolgt eine Abklärung mit einem 60-minütigen Gespräch und einer Blutentnahme. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein geeignetes Therapiekonzept erarbeitet, z. B. die Teilnahme am Adipositasgruppenprogramm oder eine individuelle Ernährungsberatung.

Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten durch die Vernetzung mit Fachpersonen

Es ist keineswegs so, dass jede Adipositaspatientin psychologisch mitbetreut werden muss. Empfohlen wird das niederschwellige Angebot nur jenen Patienten, bei denen dieses eine wichtige Ergänzung zum Therapiekonzept bildet. Betrachtet man die verschiedenen Essmuster, die zu Adipositas führen, ist es oft von Vorteil, psychologische Unterstützung zu beanspruchen. Unterschieden wird z. B. zwischen emotionalen Essmustern oder den sogenannten «Chocoholics», die zwanghaft Süssigkeiten essen. Zucker ist tatsächlich eine psychoaktive Substanz. «Binge-Eating (Esssucht) ist ein häufiges Phänomen, bei dem jemand unkontrollierte Essanfälle hat, wie in Trance isst und sich anschliessend schämt. Allein mit medikamentöser Unterstützung und der Ernährungsberatung kann dieses Problem nicht behandelt werden. Da ist etwas Grundlegendes verborgen, das nicht wahrgenommen wird. Hier kann eine Psychotherapie sehr wertvoll sein», bestätigt die Internistin.

Evaluation für bariatrische Eingriffe

Geleitet werden die Vorabklärungen und die postoperative Betreuung für bariatrische Patienten von Isabel Hofer. Alle Patienten mit dem Wunsch nach einer bariatrischen Operation werden im Team besprochen und es wird mit ihnen ein psychologisch-psychiatrisches Gespräch geführt, in dem u. a. beurteilt wird, ob sie stabil genug sind für die Operation und sich der Tragweite dieser Entscheidung bewusst sind. Patienten, die bereits vor dem Eingriff eine psychosomatische Unterstützung wünschen, erhalten im ZESA kompetente  Hilfe. Die intensive Nachsorge erfolgt im Adipositaszentrum und dauert mindestens fünf Jahre.

Text: Brigitte Meier
Fotos: Manuel Stettler, stettlerphotography.ch

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