Liquor – unser Nervenwasser

Wahrscheinlich haben die meisten schon einmal davon gehört, dass unser Gehirn von Flüssigkeit umgeben ist. Doch was ist das für eine Flüssigkeit? Woher kommt sie, welche Aufgaben hat sie und wo ist sie sonst noch zu finden? Liquor ist eine Flüssigkeit, deren zentrale Bedeutung man vielleicht erst auf den zweiten Blick erkennt.

Liquor wird auch Nervenwasser, Gehirnwasser oder Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit genannt. Und damit wissen wir auch bereits, wo wir diese Flüssigkeit im Körper finden: in unserem zentralen Nervensystem – dem Gehirn und dem Rückenmark. Professor Dr. med. Wieland Hermann, Chefarzt der Neurologie im Spital Langenthal, erklärt: «Unser Gehirn ist von Liquor umgeben. Diese Flüssigkeit fungiert als Schutz vor Kräften, die von aussen auf das Gehirn einwirken können, zum Beispiel Schläge oder Beschleunigungskräfte. Wenn man bedenkt, dass das menschliche Gehirn etwa 1.4 Kilogramm wiegt, ist es wichtig, dass es im Liquor schwimmt. Denn wäre das nicht so, würde das Gehirn auf dem unteren Teil, also auf der Schädelbasis, liegen und diese würde permanent vom Eigengewicht des Gehirns gestaucht und wichtige Gefässe und Nerven würden gequetscht.» Doch nicht nur der Schutz des Gehirns ist wichtig: Liquor umgibt auch das Rückenmark, sodass es sich darin frei bewegen und «schwimmen» kann.

Was ist Liquor und wo entsteht er?
Liquor ist eine klare Flüssigkeit, in der wir primär Wasser sowie Spuren von Proteinen (Eiweisse), Glucose (Zucker) und Elektroyte finden und er dient primär dem Stoffwechsel der Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark – er ist also so etwas wie Nervennahrung. Liquor finden wir auch in den Hirnkammern im Inneren des Gehirns, denn dort wird er gebildet, wie Wieland Hermann erläutert: «Liquor ist, vereinfacht gesagt, ein Filtrat aus Blut. Man kann es sich so vorstellen, dass das Blut an einem extrem dichten Filter vorbeigeführt wird und dabei primär Wasser und nur ganz wenige andere Stoffe diesen Filter durchdringen können. Das Ergebnis ist dann Liquor, der im Gehirn und im Wirbelkanal fliesst.»

Ein erwachsener Mensch hat etwa 130 bis 150 Milliliter Liquor im Körper. Es werden aber am Tag etwa 500 Milliliter Liquor gebildet, das heisst, unser Liquor wird täglich dreimal komplett ausgetauscht. Damit dieser Austausch funktioniert und das Volumen immer im Gleichgewicht bleibt, wird der Liquor in speziellen Blutgefässen im Schädelknochen sowie in den Wurzeltaschen im Rückenmark wieder in das Blutsystem zurückgeführt.

Ernsthafte Störungen
Bereits kleine Schwankungen des Liquorvolumens können gravierende Folgen für das Gehirn haben. Kann Liquor beispielsweise nicht mehr richtig abgeführt werden, steigt der Hirndruck an, was zum Tod führen kann. «Hier kann eine Ableitung durch feine Schläuche und Ventile helfen», erklärt der Neurologe. «Besteht jedoch irgendwo eine undichte Stelle, entsteht ein Unterdruck. Durch verschiedene Massnahmen muss die undichte Stelle gefunden werden, um das Gleichgewicht wiederherstellen zu können.»

Ist das Liquorsystem zum Beispiel durch Risse in der Hirnhaut defekt oder sind die oben beschriebenen dichten Filter der Liquorbildung beschädigt, können Bakterien oder Viren in den Liquor eindringen. Wieland Hermann: «Hier ist schnelles Handeln gefragt, denn Bakterien und Viren können sich innerhalb weniger Stunden so extrem vermehren, dass man bereits auf Verdacht Antibiotika verabreichen muss – noch bevor alle notwendigen Tests, zum Beispiel eine Liquordiagnostik, ausgewertet sind. Tut man dies nicht, können solche Fälle tödlich enden.»

Liquor und Rückenschmerzen
Wie bereits eingangs erwähnt, finden wir Liquor auch im Spinalkanal, wo er das Rückenmark umgibt. Was geschieht nun, wenn der Liquorfluss zum Beispiel durch Verengungen im Kanal eingeschränkt wird? Dr. med. Oliver Schmidt, Chefarzt der Wirbelsäulenmedizin, klärt auf: «Man kann sich vorstellen, dass die Nerven im Liquor schwimmen wie gerade ‹Spaghetti› in einem Rohr, die sich bei Bewegungen des Rumpfes und der Extremitäten auf- und abbewegen können. Gibt es nun irgendwo eine Verengung im Kanal und der Liquor fliesst nicht mehr, werden die Nervenfasern in der Bewegung gehemmt oder sogar eingeklemmt. Diese Engstellen führen dann zu neurologischen Problemen wie Schmerzen, Kribbeln oder gar Lähmungserscheinungen.»

Die häufigste Ursache für solche Engstellen sind insbesondere bei älteren Menschen knöcherne Anbauten an Wirbelkörpern, die den ohnehin bereits engen Raum des Liquors noch mehr einengen. Dies nennt der Fachmann eine Stenose im Spinalkanal. Oliver Schmidt: «Diese knöchernen Anbauten treten meist im Bereich der Lendenwirbel auf und verursachen Schmerzen beim Gehen. Man nennt es auch die ‹Schaufensterkrankheit›, wenn man nur noch kurze Strecken gehen kann und dann wieder stehen bleiben muss. Wenn man sich etwas nach vorn beugt, gibt es im Spinalkanal wieder mehr Platz und die Beschwerden nehmen ab.» Ein ähnliches Beschwerdebild kann auch bei jüngeren Patienten auftreten. «In diesen Fällen haben wir es aber in der Regel mit Bandscheibenvorfällen zu tun, die meist konservativ behandelt werden können», erklärt der Chefarzt Wirbelsäulenmedizin.

Therapiemöglichkeiten
Eine konservative Behandlung ist bei einer Stenose nur bedingt möglich, wie Oliver Schmidt ausführt: «Natürlich kann man auch hier mit Medikamenten eine vorübergehende Schmerzlinderung erzielen. Während in den meisten Fällen bei einem Bandscheibenvorfall das ausgetretene Bandscheibengewebe vom Körper abgebaut und der Spinalkanal wieder frei wird, ist dies bei einer knöchernen Veränderung am Wirbel im Alter nicht möglich. Hier ist unser Ziel, den Spinalkanal wieder frei zu machen, was früher oder später nur operativ möglich ist.»

Der Spezialist betont, dass auch hier nach Möglichkeit immer eine kleinere Operation bevorzugt wird: «Wir tasten uns als Team, das aus Wirbelsäulenspezialisten, Neurologen und Schmerztherapeuten besteht, zusammen mit dem Patienten an die jeweils ideale Lösung für den Patienten heran und geben ihm die Zeit, die er braucht, um eine Entscheidung zu treffen. In etwa 75 Prozent aller Fälle können wir die Operation minimalinvasiv machen, das heisst, dass wir nur einen kleinen Schnitt von zwei bis zu drei Zentimetern benötigen. Die Instrumente, die uns heute zur Verfügung stehen, sind so fein, dass ein sehr präzises und gezieltes Arbeiten möglich ist, um den störenden Knochen zu entfernen, den Kanal dadurch wieder freizulegen und so ein optimales Ergebnis zu erzielen.»

In etwa 25 Prozent der Fälle liegen zusätzliche Verschiebungen von Wirbelkörpern vor. Hier kommt man um eine grössere Operation nicht herum, da diese Wirbelkörper zusätzlich stabilisiert werden müssen, damit sie nicht weiter verrutschen.

«Auch hier arbeiten wir nach den neusten technischen Standards und tauschen uns regelmässig mit den führenden Spezialistender deutschen Wirbelsäulengesellschaft aus. Uns ist es wichtig, unsere Patienten möglichst schonend zu operieren, damit eine schnelle Heilung möglich ist und sie ihre Mobilität sowie eine beschwerdefreie Bewegung wiedererlangen.»

Nach erfolgter Operation fliesst der Liquor wieder, die Schmerzen sind weg und die Nerven erholen sich. In den meisten Fällen eilt ein operativer Eingriff nicht. Einzige Ausnahme ist diejenige, wo die Funktion der Blase und des Enddarms beeinträchtigt sind. Oliver Schmidt warnt: «Bei Sensibilitätsstörungen im Innenbereich der Oberschenkel sowie im Genital- und Analbereich ist Eile geboten. Sind diese Nerven betroffen, muss eine Operation innerhalb von etwa sechs Stunden erfolgen, damit diese Nerven nicht nachhaltig geschädigt werden. Liegt hier erst einmal eine Schädigung vor, erholen sich diese feinen Nerven nicht mehr und es droht eine Inkontinenz. Daher sollte man bei diesen Symptomen sofort die Notaufnahme aufsuchen.»

 

Text: Nathalie Beck
Fotos: Manuel Stettler, stettlerphotography.ch
lllustration: Descience, Andrea Ulrich

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