Leben im Juradorf

Auf dem Areal der dahlia oberaargau in Wiedlisbach wurde im April 2022 das Juradorf eröffnet. Geschaffen wurde ein Ort für Menschen mit einer demenziellen Erkrankung. Ein kleines Dorf mit allem, was es braucht, um ein freies, sicheres und würdevolles Leben zu ermöglichen. Mit der Sanierung des Hochhauses folgt nahtlos eine weitere Bauetappe.

Auf einem Rundgang präsentieren Urs Lüthi, Direktor, und Urs Neuenschwander, Leiter Standorte, das neue Juradorf in Wiedlisbach. In einer ersten Etappe wurden zwei Häuser gebaut. Insgesamt bieten die beiden Gebäude, je vier Wohngruppen à sieben Bewohnerinnen und Bewohner, Platz für 56 Personen. Im Haus «Malve», die Häuser werden nach Blumen benannt, fällt die grosszügige Küche, gehalten in einem fröhlichen Pink, auf. Dort wird gemeinsam gekocht und die familiäre Ambiance unterstreicht ein grosser Holztisch, an dem die Bewohnenden sitzen und essen. Funktion und Materialien der Inneneinrichtung entsprechen den Bedürfnissen der Bewohnenden und sorgen für ein heimeliges Gefühl. Viel Wert wurde auf die Farbgestaltung gelegt. Deshalb erhalten die öffentlichen Bereiche wie Küche sowie Ess- und Wohnstube kräftige Farbakzente, während in den Zimmern eine Wand in Pastelltönen gestrichen wird. Wichtig ist beispielsweise der Kontrast zwischen Boden und Wand oder dass sich die Türen farblich abheben. Die Aufzüge sind zudem automatisiert.

Dörfliche Umgebung mit Blick auf das Mittelland und die Alpen
Als einen der wesentlichsten Punkte nennt Urs Lüthi, dass den Bewohnenden ein natürlicher Wohn- und Lebensraum in abwechslungsreicher Umgebung mit Garten, Bäumen und Sträuchern angeboten werden kann. Die neu gebauten und die bestehenden Gebäude verleihen dem Areal eine vielfältige und lebendige Note. Ein Dorfplatz, ein Brunnen und eine antike «Turmuhr» tragen ebenso zu einem dörflichen Charakter bei wie ein Restaurant, ein Einkaufsladen, ein Coiffeursalon und ein grosser Saal für Anlässe. Den Bewohnenden wird keine Scheinwelt vorgespielt. «Wir haben einen realen Lebensort geschaffen mit Abwechslung und Bewegungsfreiheit in einem sicheren Umfeld. Das wird von den dementen Menschen auch so empfunden», betont Urs Lüthi. Gestartet wird mit zwei vollbesetzten Häusern, da die Bewohnenden des Hochhauses umgezogen sind.

Meilenstein Juradorf
Entsprechend gross ist die Freude über die Realisierung der ersten Bauetappe des Projektes. Wo immer möglich, wurden regionale Handwerker und Unternehmer berücksichtigt. «Wir fühlen uns der Region verpflichtet und haben dies bei der Auftragsvergabe, falls durchführbar, beachtet», erläutert Urs Lüthi. Die Kosten für die erste Etappe liegen bei rund 17 Millionen Franken. Bereits wurden beträchtliche Vorinvestitionen getätigt wie die Schnitzelheizung für das gesamte Areal. Rückblickend war die Zeitplanung zu optimistisch. Ein Hauptgrund für den verzögerten Baubeginn 2020 war die Aussiedelung des Landwirtschaftsbetriebes, die deutlich mehr Zeit beansprucht hatte als angenommen. Dank der ausgezeichneten Unterstützung seitens der zuständigen Ämter und ganz besonders durch die Gemeinde Wiedlisbach konnte die Umsiedelung des landwirtschaftlichen Betriebes schliesslich realisiert werden. «Wir sind überzeugt von unserem Konzept, ohne den Anspruch zu haben, dass dies die einzig mögliche Form ist für die Betreuung und Pflege von dementen Menschen. Die Infrastruktur ist das eine und die würdevolle Betreuung das andere. Seit Jahren setzen wir in der dahlia oberaargau ag auf die Marte-Meo-Methode», erklärt Urs Neuenschwander. Der Bau der Häuser drei und vier als letzte Etappe ist noch nicht terminiert. Hingegen soll das bereits bestehende Hochhaus bis Ende 2024 saniert werden. Eine Herausforderung ist die künftige Bettenbelegung: Aufgrund der Pandemie hat sich die Marktsituation verändert und die Bettenanzahl im Pflegebereich erhöht und wird auch im Oberaargau steigen. «Umso wichtiger ist unser Juradorf mit hohem Wiedererkennungswert, ein bisher schweizweit einzigartiges Angebot», sagt Urs Lüthi. Realisiert wurde ein Ort, damit sich Menschen, die an Demenz erkrankt sind, innerhalb des «Dorfes» hindernisfrei und barrierefrei bewegen können und somit ein hoher Grad an persönlicher Bewegungsfreiheit gewahrt bleibt, innerhalb eines natürlichen, aber sicheren Raums.

Was bedeutet Gesundheit für die Bewohnenden?

Wir durften mit drei Bewohnenden über ihr Befinden sprechen. Sie alle fühlen sich wohl in der dahlia oberaargau ag in Herzogenbuchsee und sind sich einig: Die Gesundheit ist ein kostbares Gut, das keineswegs selbstverständlich ist und oft zu wenig geschätzt wird.

Im Zimmer von Ernst Alfred Habegger duftet es nach ätherischem Minzöl. «Meine Geheimwaffe», sagt der ehemalige SBB-Rangiermeister verschmitzt, als er sich vom Rollstuhl aufs Bett setzt. Das Heilpflanzenöl ist sein bewährtes Mittel gegen die jahrelangen Schmerzen, die ihn seit einem Unfall plagen. Der 79-Jährige ist in Herzogenbuchsee aufgewachsen und kennt die Schattenseiten des Lebens. Doch sein Credo lautet: Kopf hoch und vorwärts schauen. Das mache ihn zufrieden und dankbar. Etwa für die gute Betreuung durch die Pflegenden oder das schmackhafte Essen. Musik bedeutet ihm viel; gern hört er die Musikwelle im Radio oder den Hawaii Jonny auf seinem alten Kassettengerät. Regelmässig auf dem Programm steht die Tagesschau in Gebärdensprache. Diese beherrscht Ernst Habegger, weil er einen gehörlosen Onkel hatte.

Klara Gertrud Gräub sitzt an ihrer geliebten Bernina-Nähmaschine und «büschelet» sorgfältig den hauchzarten Stoff, mit dem sie sich vor Kurzem eine Bluse genäht hat. Aus dem restlichen Stoff kreiert sie nun ein hübsches Foulard. «Ja, ich habe Damenschneiderin gelernt im Weiler Oschwand und aufgewachsen bin ich in Ochlenberg», erzählt die zierliche Frau. Sie hatte einen weiten Schulweg. Bewegung und frische Luft sind ihr sehr wichtig. «Ich will doch nicht den ganzen Tag nur herumsitzen.» So unternimmt die 91-Jährige täglich Spaziergänge und geniesst die schöne Umgebung des dahlia. Solange es geht, verzichtet sie auf den Rollator und benutzt die Stöcke: «Das tut Körper und Seele gut und ist gesund.» Ebenso wie der Honig, den sie gerne zum Frühstück geniesst.

Mathilda Rosa Michel, welch klangvoller Name. Die 91-Jährige fühlt sich wohl im dahlia. «Obschon ich zuerst missmutig war, als mir meine Töchter nach einem Sturz sagten, dass ich nicht mehr allein zu Hause wohnen könne. Doch der erste Eindruck war positiv und das Haus ist sehr schön gelegen», meint sie mit einem Blick aus ihrem Fenster. Sie hat lange in der Migros Herzogenbuchsee gearbeitet und gerne Leute um sich. Umso mehr freut sie sich auf die Besuche ihrer Schwester und der Nichten. Aufgrund ihrer Probleme mit den Beinen schätzt sie die regelmässige Physiotherapie. Und natürlich das abwechslungsreiche Essen mit viel Gemüse. «Süssigkeiten esse ich selten, höchstens ein Praliné, wenn ich mal nicht schlafen kann», verrät sie und lacht. Humor ist für die Rheintalerin ein wichtiger Bestandteil der Gesundheit.

 

Text: Brigitte Meier
Fotos: Michael Meier / Manuel Stettler, stettlerphotography.ch

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