«Home Treatment» – wenn der Psychiater zu Hause klingelt

«Home Treatment» nennt sich die neue Behandlungsmethode der psychiatrischen Akutbehandlung, die zu Hause statt stationär in der Klinik stattfindet. In mehreren Regionen der Schweiz wird dies bereits erfolgreich angeboten – ab Anfang 2020 gibt es dieses Angebot auch beim Psychiatrischen Dienst der SRO AG.

Wenn sich jemand ein Bein bricht, eine Grippe hat oder sich einen Schnupfen einfängt, ist für die meisten Menschen klar, was zu tun ist. Psychische Erkrankungen sind jedoch im Gegensatz zu körperlichen für einen Laien weit schwieriger zu erfassen und es fällt ihm schwerer, damit umzugehen. Noch immer sind psychische Erkrankungen ein heikles Thema in der Gesellschaft und man hat Angst, schnell als derjenige abgestempelt zu werden, der «nicht alle Tassen im Schrank» hat. Dabei ist jeder Zweite von uns im Lauf seines Lebens von einer psychischen Krise betroffen.

Individuelle Krankheit, individuelle Therapie
Es gibt in der Psychiatrie nicht die psychische Erkrankung und entsprechend auch nicht die Therapie, die bei jedem Patienten wirkt. Psychische Erkrankungen sind sehr individuell und man muss für jeden Betroffenen die passende Therapie und den richtigen Weg finden, um wieder gesund zu werden. Denn meist ist nicht nur die Psyche betroffen, sondern auch der Körper und das direkte soziale Umfeld.

Dr. med. Manuel Moser, Chefarzt Psychiatrische Dienste SRO AG, erklärt: «Für manche Patienten ist eine ambulante Behandlung der richtige Weg – persönliche Gespräche und eventuell weitere Massnahmen –, um psychisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Für andere ist es besser, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen und sich einer stationären Behandlung zu unterziehen. Die Ent­scheidung, welche Therapieform für jemanden die geeignetste ist, wird meist gemeinsam mit dem Patienten und den Angehörigen getroffen.»

Steigender Bedarf
Unser gesellschaftliches, berufliches und privates Umfeld fordert täglich viel von uns – und manchmal mehr, als wir zu leisten imstande sind. Wir kommen an unsere Grenzen und es können sich psychische Erkrankungen entwickeln. Manuel Moser: «Diesen Zustand zu erkennen und sich vor allem einzugestehen, dass man Hilfe braucht, ist der wichtigste Schritt, um eine gute Chance zu haben, wieder ins Gleichgewicht zu kommen und seinen Alltag meistern zu können.»

So ist seit einigen Jahren ein stetig steigender Bedarf an psychologischer und psychiatrischer Betreuung zu verzeichnen. «Derzeit haben wir beim Psychiatrischen Dienst SRO 34 stationäre Plätze, diverse ambulante Behandlungsmöglichkeiten sowie eine Akuttagesklinik mit 12 Behandlungsplätzen. Da wir die gesamte Region Oberaargau mit rund 80 000 Einwohnern abdecken, übersteigt der tatsächliche Bedarf die 34 stationären Plätze bei Weitem.» So müssen über 50% der Patienten, die eigentlich gern möglichst nah bei ihrem Wohnort bleiben möchten, in andere stationäre Einrichtungen wie Münsingen oder St. Urban ausweichen.

Neue Wege
Auf der Suche nach neuen Wegen und Möglichkeiten, die Bedürfnisse der Patienten aus der Region nach stationärer psychiatrischer Behandlung besser abdecken zu können, wurde das Modell «Home Treatment» geprüft, das in Zürich und Luzern bereits erfolgreich praktiziert wird. Dieses Modell ermöglicht eine Akutbehandlung zu Hause durch ein spezialisiertes Behandlungsteam. Durch eine intensive Betreuung können Personen, die sich in einer akuten psychischen Krise oder Krankheitsphase befinden, zu Hause behandelt werden. Dabei wird das soziale Umfeld der Patienten mit einbezogen.

Um zu prüfen, ob dieses Modell auch im Kanton Bern machbar ist, wurde von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern 2018 die Durchführung von Modellversuchen in drei Institutionen veranlasst – eine davon sind die Psychiatrischen Dienste der SRO AG.

Für wen ist «Home Treatment» geeignet?
Das Angebot «Home Treatment» richtet sich an Patienten ab 18 Jahren, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden oder an einer akuten psychischen Erkrankung leiden und in ihrem gewohnten Umfeld bleiben möchten. Manuel Moser erläutert: «In der Regel werden diese Patienten bisher während einer gewissen Dauer stationär behandelt. Durch dieses neue Angebot besteht jedoch die Möglichkeit, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und durch unser Fachpersonal intensiv und sehr auf die persönlichen Bedürfnisse ausgerichtet behandelt werden können.

Natürlich gibt es auch Fälle, für die dieses Modell nicht geeignet ist, wie Menschen, die eine Sucht- oder Demenzproblematik haben, sich in einem gewalttätigen Umfeld befinden oder bei denen ein nicht einschätzbares Suizidrisiko vorliegt.» Diese Patienten werden nach wie vor stationär behandelt.

Vorteile des neuen Modells
Durch das neue Behandlungsmodell werden in der Region Oberaargau per Anfang nächstes Jahr 16 weitere Behandlungsplätze für psychisch erkrankte Menschen geschaffen. Diese werden von acht Pflegefachkräften, drei Fachärzten und einer Fachperson Sozialarbeit mehrmals täglich zu Hause besucht. Die Betreuung der Patienten findet so in deren heimischem Umfeld statt.

Die Vorteile dieser Behandlungsmethode erklärt Manuel Moser wie folgt: «Wenn wir den Patienten zu Hause besuchen, sind wir Gast bei ihm. Diese Situation bestimmt von Anfang an den Umgang miteinander. Durch die Behandlung zu Hause sieht der Arzt auch das direkte Umfeld des Patienten sowie deren Angehörige. Daraus ergibt sich für uns ein viel detaillierteres Bild und wir können die Behandlung noch spezifischer auf den Patienten und seine Situation ausrichten.

Selbstverständlich funktioniert dieses Modell nur, wenn der Patient die Behandlung zu Hause wünscht und die Angehörigen dies mittragen. Sie werden durch unsere Betreuung einerseits entlastet und andererseits gibt es ihnen eine gewisse Sicherheit im Umgang mit dem Patienten.» Zusätzlich zu den Fachkräften ist auch eine Person im Einsatz, die selber einmal Patient war und eine entsprechende Zusatzausbildung im Bereich Pflege absolviert hat. Durch diesen Kontakt öffnen sich Patienten meist noch mehr und fühlen sich verstanden.
«Insbesondere für Frauen, die Kinder haben, birgt dieses Modell den Vorteil, dass sie sich trotz Behandlung weiter um ihre Kinder kümmern können und nicht Angst haben müssen, dass sie ihnen weggenommen werden», betont Manuel Moser. Auch die Anonymität der Betreuung wird gewahrt, da die Fahrzeuge des betreuenden Personals nicht angeschrieben sind.

Behandlungsdauer und Kosten
Eine Behandlung mittels «Home Treatment» dauert, wie eine stationäre Behandlung, im Durchschnitt etwa vier Wochen. Danach wird der Patient ambulant weiterbetreut. Eine Betreuung mittels «Home Treatment» kostet im Schnitt etwa 20% weniger als eine herkömmliche stationäre Betreuung. «Ein entsprechender Tarif für diese Art der Betreuung ist im aktuellen Abrechnungskatalog noch nicht vorgesehen und wir können diese besondere Dienstleistung nur als ambulante Behandlung abrechnen», erläutert Manuel Moser. «Daher erhalten wir in einem ersten Schritt finanzielle Unterstützung vom Kanton und führen mit diversen Krankenkassen entsprechende Verhandlungen für eine Kostenübernahme.»

Moderne Psychiatrie
Im Gegensatz zu anderen Fachbereichen der Medizin möchte man im Bereich der Psychiatrie weg von grossen Kliniken und hin zu kleinen Behandlungszentren, möglichst nah am Wohnort der Patienten. Manuel Moser: «So kann das Umfeld der Patienten viel besser mit eingebunden werden. Die Behandlung ist sehr praxis- und lebensorientiert und die Ergebnisse sind wesentlich besser.» Auch der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Hausärzten ist wesentlich intensiver.

Ziel: zurück ins Leben
Auf psychische Störungen zu hören, sie wahrzunehmen, ist wichtig, denn sie können ein Zeichen dafür sein, dass wir etwas in unserem Leben verändern sollten, eine Pause brauchen oder einfach die Geschwindigkeit etwas drosseln sollten. Hilfe von aussen kann dazu beitragen, Wege zu finden, die genau zu diesem Ziel führen. Und man sollte sich nie schämen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, um zurück in den Alltag zu finden – zurück ins Leben.

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