Ein Thema geht unter die Haut
Häufig ist selbstverletzendes Verhalten ein Ausdruck seelischer Belastung. Jugendliche fügen sich bewusst Wunden zu, um sich und den Körper spüren zu können.
Das Phänomen der Selbstverletzung betrifft bis zu 15 Prozent der Jugendlichen im adoleszenten Alter, die sich zumindest gelegentlich verletzen. Mädchen und junge Frauen sind vermehrt betroffen. Häufig verletzen sie sich dabei mit Rasierklingen oder Messern. Aber warum tun sie das? Und wie können die Eltern ihnen helfen? Über Ursachen, Risikofaktoren und Therapiemöglichkeiten haben wir mit Dr. med. Patrick Nemeshazy, Stv. Chefarzt, Ärztlicher Leiter Ambulatorien/Psychoonkologie SRO AG, gesprochen.
Der Körper eines Menschen ist verletzlich. Denkt man an Wunden und Verletzungen, geht man in der Regel davon aus, dass diese unabsichtlich, in Form eines Unfalles, entstanden sind oder von einer anderen Person zugefügt wurden. Es gibt aber Menschen, die sich selbst absichtlich verletzen und sich Schmerzen zufügen. Sie befinden sich in einer starken emotionalen Anspannung, aus der sie keinen Ausweg finden. Insbesondere die Pubertät ist eine sensible Zeit der Veränderung, der Irrungen und Wirrungen: Bekanntlich fahren die Emotionen Achterbahn und dabei sind Bewältigungsstrategien für vielfältige Herausforderungen gefragt (Schule, Freizeit, Freunde u.v.m.).
Die Gründe für Selbstverletzungen sind ebenso unterschiedlich wie die Methoden: Mädchen ritzen sich die Handgelenke, Arme oder Beine. Meist benutzen sie dafür scharfe oder spitze Gegenstände wie Glasscherben, Messer oder Sicherheitsnadeln. Jungs verbrennen sich häufiger mit Zigaretten, fügen sich Verätzungen zu, schlagen den Kopf oder die Faust gegen eine Wand. Doch nach jeder Selbstverletzung bleibt eine Wunde zurück, die zwar wieder heilt, jedoch Narben hinterlässt. «Wichtig ist, in jedem Fall das selbstverletzende Verhalten als Warnsignal ernst zu nehmen und es nicht als Spinnerei oder bizarre Angewohnheit abzutun», betont Patrick Nemeshazy. Allgemein nimmt dieses Verhalten mit zunehmendem Alter ab und ist folglich eher selten bei älteren Erwachsenen. Unterschieden wird zwischen sozial akzeptierten Selbstverletzungen wie z.B. Tätowierung, Piercing oder religiösen Ritualen und sozial nicht akzeptierten Selbstverletzungen wie Ritzen und Schneiden.
Körperlicher Schmerz als Ausdruck seelischen Leidens
Die Selbstverletzung ist gleichsam ein Ventil, durch das der grosse innere Druck abgelassen wird; der physische Schmerz lenkt für einen Moment vom inneren Schmerz ab. Sie hat kurzfristig den Effekt, dass unerträgliche Spannung abgebaut wird und man sich wieder spürt. Längerfristig bleiben jedoch die ungelösten Probleme und dauerhafte Narben, körperlich und seelisch. Gefährlich: Die schnelle Wirkung von Selbstverletzungen ist attraktiv für die Jugendlichen, steigert jedoch gleichzeitig den Abhängigkeitscharakter und bekommt häufig suchtartige Züge. Je stärker dieses Verhalten verinnerlicht wird, umso schwieriger ist es, diese Strategie zu beenden.
Mögliche Ursachen/Risikofaktoren
Die Betroffenen haben oft eine Vorgeschichte, in der sie traumatische Ereignisse durchleben mussten. So gibt es «ritzende» Teenager, die in der Kindheit sexuell missbraucht wurden, eine nahestehende Person verloren oder Vernachlässigung und Gewalt in der Familie erfahren haben. Ausserdem kommt es häufig vor, dass der Drang dazu, sich selbst zu verletzen, nicht das einzige Symptom eines gestörten seelischen Gleichgewichts bleibt. «Viele Patienten, die wegen Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder wegen Depressionen in Behandlung sind, fügen sich oft auch Schnittwunden zu», erklärt Patrick Nemeshazy. Manchmal ist es auch eine Komponente von Selbstbestrafung oder der Wunsch nach Zuwendung.
In diesem Sinne müssen Selbstverletzungen als Bewältigungsmechanismen gesehen werden: Sie sind ein Mittel, um über den unmittelbaren Grund für Stress und emotionalen Schmerz hinwegzukommen, indem man sich auf etwas unmittelbar Spürbares konzentrieren kann. «Entgegen der verbreiteten Meinung, Jugendliche, die sich selbst verletzen, würden damit nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, möchten viele, dass ihre Taten unentdeckt bleiben», resümiert der Arzt. «Die meisten wollen in erster Linie unerträgliche Spannungen und Frustrationen loswerden oder sich von schlechten Erinnerungen ablenken. Sie sind mit ihren eigenen Gefühlen überfordert. Selbstverletzungen stehen nicht im Zusammenhang mit einem Suizidversuch, sondern mit dem Spannungsabbau.» Häufigster Grund ist das Loslösen von intensiver Belastung, seien es familiäre Probleme, der erste Liebeskummer oder Leistungsdruck.
«Wichtig: Nicht jeder, der sich selber verletzt, hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder ist missbraucht worden.»
Auslöser können traumatische Erlebnisse wie emotionaler, sexueller oder körperlicher Missbrauch, posttraumatische Belastungsstörungen, Störungen des serotoninen Systems im Hirn, Impulsivität und – als wichtiger Grund – Störung im Umgang mit den eigenen Emotionen sein.
Selbstverletzungen bei Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind häufig, aber nicht zwingend bei allen mit dieser Erkrankung. Borderliner haben vor allem Schwierigkeiten in Beziehungen und mit ihren eigenen Emotionen. Sie können Gefühle und ihre Stimmung schlecht regulieren und handeln oft impulsiv.
Aus innerer Not und zum Spannungsabbau
Selbstverletzung kann als Symptom einer psychischen Störung oder Erkrankung, jedoch auch ohne begleitende psychiatrische Erkrankung auftreten. Gemäss Dr. Nemeshazy bestätigen seine Kollegen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass 19 Prozent der behandelnden Patienten im Kinder- und Jugendalter selbstverletzendes Verhalten aufweisen.
Sie leiden oft an Störungen des Sozialverhaltens und Depressionen. Häufig betroffen sind kognitiv beeinträchtigte Personen. Bei Erwachsenen können impulsive Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen hinzukommen. Interessant zu wissen ist, dass man bei Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hirnorganisch festgestellt hat, dass ihre Schmerzschwelle im ruhigen Zustand schon höher ist als die einer gesunden Kontrollgruppe. Stehen sie unter Anspannung, erhöht sich diese zusätzlich. Somit empfinden sie die Selbstverletzung oft nicht als körperlichen Schmerz.
Die Ausschüttung körpereigener Endorphine löst den Drang zum Spannungsabbau aus und bekommt einen suchtartigen Charakter. Diese Freisetzung kennt man von Sportlern, wie Marathonläufern, die den Schmerz nicht mehr wahrnehmen und in eine Art Euphorie kommen. Das funktioniert deshalb, weil der Körper im verletzten Zustand mehr Endorphine und weitere Substanzen produziert, die als natürliche Schmerzmittel fungieren.
THERAPIE
Vor allem für die Jugendlichen, die nicht mehr von der Selbstverletzung ablassen und sich keine alternativen Strategien im Umgang mit schwierigen Emotionen aneignen können, ist professionelle Unterstützung notwendig. Mit einer Therapie suchen sie einen anderen Weg, um mit den sie überflutenden Gefühlen umzugehen und inneren Druck abzubauen. Diese schwierige Aufgabe erfordert viel Geduld von Betroffenen und Angehörigen.
1. Schritt
Wegkommen von der inadäquaten Problemlösungsstrategie: Zuerst lernen die Betroffenen, sich selber ernst zu nehmen. Selbstverletzung ist die schnellste Methode, Spannung abzubauen. Durch den Schmerz spürt man zwar sofort Entlastung, aber das Problem ist nur verdrängt und kommt wieder.
2. Schritt
Emotionen wahrnehmen und lernen, damit umzugehen. Sich einstufen zwischen 0 und 100 – ähnlich einer Fieberkurve. Spüren, wenn die Spannung ansteigt, und den Druck kontrolliert abbauen, bevor der «point of no return» erreicht wird und man sich verletzen muss.
3. Schritt
Alternative Strategien lernen und herausfinden, wie innerer Druck abgebaut werden kann. Ablenken mit verschiedenen Tätigkeiten, mit denen man auf den Drang, sich selbst zu verletzen, reagieren kann (sogenannte Skills).
- Eiswürfel oder Eisbeutel auf die Hand oder die Unterarme pressen
- Kalt duschen
- Laut Musik hören, dazu tanzen
- Bewegen, joggen usw.
- Kreuzworträtsel lösen, Puzzle machen
- Tagebuch schreiben, zeichnen
- Ein Gummiband um das Handgelenk legen, anspannen und loslassen
- Auf ein Kissen oder das Bett schlagen
- Mit Freunden, einem Therapeuten oder einer Beratung sprechen
- An ätherischen Ölen riechen
- Und vieles mehr
Jeder muss individuell für ihn geeignete Strategien herausfinden.
Was kann man tun als Angehörige?
Wenn Eltern einen Verdacht haben, sollten sie das Verhalten nicht ignorieren, sondern das Gespräch suchen. «Als Bezugspersonen sind sie oft geschockt und es fällt schwer, nicht übermässig besorgt zu sein», erklärt Patrick Nemeshazy und empfiehlt, nicht zu dramatisieren und dem Jugendlichen zu sagen: «Schau, in deinem Alter bist du nicht der Einzige, der das macht. Wir möchten wissen und verstehen, weshalb du dich selbst verletzt, und dich unterstützen, damit du alternative Strategien erlernst, wie du mit deinen dich überflutenden Gefühlen umgehen kannst, ohne dir Schaden zuzufügen.»
Jugendliche ziehen sich meist zurück und kleiden sich so, dass ihre Wunden nicht auffallen. Sichtbare Zeichen wie Schnitte, Wunden, Narben werden versteckt (lange Ärmel, Pulswärmer usw.). Deshalb merkt oft nur ein Bruchteil der Eltern, wenn sich ihr Kind Schnittwunden oder andere Verletzungen zufügt. Patrick Nemeshazy setzt daher auf Information und Aufklärung. «Selbstverletzung wird auch unter Jugendlichen tabuisiert. Jene, die nicht betroffen sind, verstehen das nicht und wollen damit nichts zu tun haben.»
Echtes Interesse zeigen im Umgang mit Betroffenen ist wichtig
Prof. Dr. Michael Kaess, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Bern, der auf dem Gebiet der selbstverletzenden Jugendlichen forscht: «Ansprechen und Thematisieren hilft in der Regel und wird oft als entlastend empfunden.» Voraussetzung sei, dass dies «nicht wertend und schon gar nicht entwertend» geschieht, sondern aus echtem Interesse heraus gefragt wird «Warum machst du das?», damit sich Jugendliche, die sich selber verletzen, verstanden fühlen und somit bereit sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
In der Fachwelt spricht man von drei Gruppen: schwere körperliche bis zu lebensbedrohende Selbstverletzungen, meist im Rahmen von Psychosen oder unter Drogeneinfluss; stereotype Selbstverletzungen, häufig bei kognitiv beeinträchtigten Menschen, um sich zu beruhigen, und oberflächliche Selbstverletzungen wie Ritzen, Beissen oder Haareausreissen als häufigste Methoden, oft im Rahmen der Emotionsregulation.