Das Hier und Jetzt geniessen
Wenn schwer erkrankte Patienten ihre Therapie machen und trotz allem nicht aufgeben, ist dies für Annemarie Hartmann eine grosse Bereicherung. Das Gespräch verdeutlicht, wie eng verbunden die Bereichsleiterin Onkologie mit ihren Patienten ist und wie sie daraus Kraft für ihr eigenes Leben nimmt.
Annemarie Hartmann, seit 15 Jahren betreuen Sie als Bereichsleiterin Onkologie krebskranke Patienten im Spital Langenthal. Fachwissen, Empathie und Belastbarkeit sind wichtige Voraussetzungen. Was bereichert Sie bei Ihrer Tätigkeit im Ambulatorium?
Der Mensch ist im Mittelpunkt. Am meisten beeindruckt mich bei den schwer erkrankten Patienten, wie sie mit ihrer Situation umgehen, sie oft sogar akzeptieren können und wieder Mut schöpfen zum Leben. Das zu unterstützen und zu ermöglichen, ist das Schöne in meinem Beruf. Bereichernd ist, dass Ärzte und Pflegefachpersonen die gleiche ethische Grundhaltung gegenüber den Patienten haben.
Wie überwachen und betreuen Sie die Patienten während der diversen onkologischen Therapien und Interventionen?
Patienten, die erstmals ins Ambulatorium kommen, befinden sich oft in einer Art Ausnahmezustand. Es geht darum, eine Beziehung und Vertrauen aufzubauen; miteinander zu reden und herauszufinden, was sie brauchen und welches ihre grössten Ängste sind. Ihnen erklären, was geschieht, wenn sie die erste Infusion bekommen, oder wann erste Nebenwirkungen auftreten können. Anderntags telefonieren wir persönlich mit den Patienten, wie sie die erste Nacht erlebt haben.
Wie gehen Sie mit dem Wechselbad der Gefühle, zwischen Hoffnung und Angst, Depression und Wut, der Patienten um?
Unser «technisches» Handwerk ist das Verabreichen von Chemotherapien, meistens in Form von Tabletten, Infusionen oder Spritzen. Die hochpotenten Mittel erfordern ein absolut sicheres Handling. Das «geistige» Handwerk ist, Menschen zu begleiten. Es besteht eine familiäre Verbindung zu den Patienten, das macht meine Arbeit so schön. Die Patienten machen die Therapie nicht gern, aber sie fühlen sich wohl im kleinen Ambulatorium mit zwölf Plätzen.
Welche Situationen sind sehr belastend?
Manchmal kann man nicht heilen, dann geht es darum, die Schmerzen zu lindern und die Lebensqualität zu erhalten. Wir haben eine enge Bindung und eine Vertrautheit mit den Patienten. Es macht traurig, wenn jemand jung erkrankt ist oder sehr schnell stirbt. Das hinterlässt eine Sprachlosigkeit.
Was hilft Ihnen, sich trotz Nähe abzugrenzen?
Die Natur ist immer eine Kraftquelle und Bewegung ist erholsam. Distanz bietet auch der Arbeitsweg; seit 15 Jahren pendle ich mit dem Zug nach Langenthal. Temporär trage ich schon etwas heim, gerade wenn man jemanden lange begleitet hat und es ums Sterben geht.
Hat sich die Krebstherapie verändert?
Dank den Fortschritten in der Medizin hat sich die Krebserkrankung vermehrt in eine chronische Krankheit mit langer Behandlungsdauer entwickelt. Die heutigen Therapien sind besser verträglich und haben weniger Nebenwirkungen. Dadurch vermindern sich die Einschränkungen im Alltag und die Lebensqualität hat sich deutlich verbessert.
Wie gehen Angehörige mit der Erkrankung um?
Die nächsten Angehörigen leiden oft sehr und fühlen sich ohnmächtig und verzweifelt. Für Informationsgespräche dürfen sie die Patienten ins Ambulatorium begleiten; hilfreich kann es gerade für Kinder sein, damit sie einmal sehen, wo ihre Mami jede Woche hingeht. Für Angehörige und Patienten kann es entlastend sein, wenn sie das Angebot der psychoonkologischen Sprechstunde annehmen.
Welche Aufgaben gehören auch in Ihren Bereich?
Als Bereichsleitung bin ich zuständig für die Organisation und Administration sowie die Termin- und Personalplanung. Das selbstständige Arbeiten im Pflegeteam und im interdisziplinären Behandlungsteam ist mir wichtig.
Was macht Ihnen Ihre Arbeit täglich bewusst?
Mich faszinieren die Fähigkeiten, welche Patienten entwickeln, mit ihrer Situation umzugehen. Ich bewundere die Stärke jedes einzelnen Menschen, der sein Schicksal trägt, positiv nach vorne schaut und den Moment geniesst. Das erfüllt mich mit Kraft und dem Bewusstsein: Ich muss heute leben!
Text: Brigitte Meier
Fotos: Manuel Stettler, stettlerphotography.ch